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Alternative: Soziale Gerechtigkeit

von Bernd Michl

Das Aktionsbündnis "Aufstehen für eine andere Politik", dessen ERFURTER ERKLÄRUNG 1997 den Regierungswechsel in Deutschland mit herbeigeführt hatte, brachte es in Erfurt am 28./29. Januar 2000 erneut auf den Punkt:

Mit der neuen Regierung hat sich - trotz einzelner Verbesserungen - noch keineswegs die Politik gewandelt. Eine beispiellose "Reichtumsvermehrung" zum Vorteil der Besitzenden hat stattgefunden, so der DGB-Vorsitzende in Thüringen, Frank Spieth, in seiner Begrüßung. Prof. Friedhelm Hengsbach SJ vom Oswald-von-Nell-Breuning Institut, Frankfurt/M., begründete dies im Hauptreferat ausführlich: Wer behauptet, zum "Sparpaket" der Regierungen Kohl und Schröder gebe es "keine Alternative", der erklärt damit den Bankrott der Politik. Oder, wie Prof. Dr. Jörg Huffschmid (Arbeitsgruppe Alternative Wirtschaftspolitik) es deutlicher ausdrückte: der will keine Alternative. Angesichts steigender Profitraten, so Hengsbach, gehe die Umverteilungspolitik meist zu Lasten der unteren Schichten. Die Zinseinkommen der oberen zehn Prozent der Haushalte beispielsweise seien ebenso hoch wie das Gesamteinkommen der unteren vierzig Prozent. Gerechtigkeit muß unbedingt eingefordert werden, aber nicht als Beteiligung am Reichtum, wie eine "Kuchenökonomie" sich das vorstellt: Vielmehr sei es nötig, die Menschen an der Entstehung des Reichtums zu beteiligen, also gehe es um Beteiligungsgerechtigkeit. Kernfrage der Demokratie müsse sein: "Wieviel Un-Gleichheit kann eine Gesellschaft vertragen?" - nicht "wieviel Gleichheit" (wie vielleicht in den USA gedacht wird). Deshalb müßten die Möglichkeiten der Beteiligung neu definiert werden: "Arbeit" muß als sozial nützliche Tätigkeit neu bewertet und honoriert werden. Vollbeschäftigung darf folglich kein Tabu mehr sein.

Ulrich Duchrow von Kairos Europa (an Stelle des erkrankten Propst Heino Falcke auf dem Podium) warf mit großer Eindringlichkeit die Eigentumsfrage auf unter Hinweis auf die im Grundgesetz verankerte Sozialpflichtigkeit des Eigentums: "Unser Finanz- und Steuersystem ist systemisch grundgesetzwidrig". Er forderte auf, Bündnisse quer durch die gesellschaftlichen Organisationen zu bilden, um Alternativen in praxi einzufordern. Die Frage eines gerechten und ökologisch vertretbaren Weltwirtschaftssystems wurde, laut Duchrow, vom Reformierten Weltbund (in Debrezen, 1999) zum status confessionis, also zur Bekenntnisfrage, erhoben, so wie vordem die Ablehnung von NS-Ideologie und Apartheid.

Der Wirtschaftswissenschaftler Prof. Dr. Jörg Huffschmid betonte, die irrige Meinung, Arbeitslosigkeit sei ein Verteilungsproblem (oder -kampf) zwischen den Arbeitnehmern und "Wettbewerbsfähigkeit" bedinge "Abspecken" (v.a. an Arbeitsplätzen und bei Arbeitnehmern) müsse endlich durchbrochen werden. Er wies auf staatliche Beschäftigungsprogramme für Jugendliche in Frankreich hin. "Alleingänge" in dieser Richtung seien notwendig und den Regierungen der EU durchaus möglich; sie müßten bei uns von der Basis eingefordert werden. Die GEW-Vorsitzende, Dr. Eva-Maria Stange, machte auf die im Schröder/Blair-Papier festgeschriebene verhängnisvolle Tendenz aufmerksam, "Modernisierer" als die eigentlich Fortschrittlichen zu betrachten. Alle, die für soziale Gerechtigkeit einträten, also auch die Anwesenden, seien demnach die Rückschrittlichen. Die Vertreterin gewerkschaftlicher Arbeitslosengruppen, Angelika Beier, ließ aufhorchen mit der Information, es gebe Pläne, wonach die Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe zusammengefaßt werden sollen, mit dem Effekt, die Langzeitarbeitslosen in die Sozialhilfe abzuschieben. Die Vertreterin von freien Zusammenschlüssen studentischer Organisationen, Kerry Sailer, sprach die Verdrossenheit gegenüber der Politik an, die verstärkt wird durch eine zunehmende Ökonomisierung von Bildung, die nur mehr ökonomisch verwertbare Bildung als legitim betrachte.

Nach dem von Eckart Spoo (Journalist und Initiator der kritischen Zweiwochenschrift Ossietzky) moderierten Podium wurden in drei Arbeitskreisen zu den Themenbereichen Gerechtigkeit, Arbeit und Bildung die Erfahrungen der Teilnehmerinnen und Teilnehmer einbezogen und das weitere Vorgehen erörtert.

Als nächste konkrete Schritte einigte sich die Versammlung auf einen neuen Erfurter Appell: "Eine Million neuer Arbeitsplätze in öffentlicher (staatlicher und nicht-staatlicher) Beschäftigung bis zur Bundestagswahl 2002 - für weniger als 10 Milliarden". Wäre der politische Wille vorhanden, so könnte nach Expertenrechnung ein staatlicher Finanzeinsatz von 6,5 Milliarden ausreichen. Würde zudem eine - ebenfalls von der Versammlung geforderte - Vermögenssteuer eingeführt (eine Forderung, die im übrigen auch im Sozialpapier der Kirchen von 1997 erhoben wurde), so wäre mit über 30 Milliarden dieser Betrag mehr als gedeckt.

Für den neuen Erfurter Appell sollen bis zum Verfassungstag, dem 51. Jahrestag des Grundgesetzes am 23. Mai 2000, Unterschriften gesammelt werden. Eine für dieses Datum geplante Expertentagung "Mehr Demokratie" wird Bilanz ziehen. Am 23. September 2000 schließlich, zur Halbzeit der Regierung, ist vorgesehen, zu einer bundesweiten Großveranstaltung in Berlin aufzurufen, um den Forderungen der Erfurter Erklärung für soziale Gerechtigkeit Nachdruck zu verleihen.

Bernd Michl

Netz-Info, April 2000
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