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Globalisierung

Aus der dritten "Berliner Rede" des Bundespräsidenten am 13. Mai 2002

von Johannes Rau

"Von der Globalisierung sind wir alle betroffen - noch bevor alle genau wissen, wie sie eigentlich funktioniert. Darum müssen wir zu begreifen versuchen, was geschieht und warum es geschieht. Wir müsse die Globalisierung las politische Herausforderung verstehen und politisch handeln. Damit wir die Globalisierung gestalten können, brauchen wir neue politische Antworten (..).

Lange schon hat es nicht mehr eine so breite, internationale Protestbewegung geben wie die der Globalisierungskritiker. Erstmals seit Jahren finden sich wieder Menschen aus allen Erdteilen, Menschen ganz unterschiedlicher sozialer und politischer Herkunft für eine gemeinsame Sache zusammen: Vom Bauern in Guatemala bis zur Studentin aus New York, vom Gewerkschaftssekretär aus Göppingen bis zum kardinal von Genua. Diese Bewegung hat viel angestoßen, sie -stellt richtige Fragen. Das gilt auch dann, wenn es bei Demonstrationen immer wieder zu Gewalt kommt. Für alle muss gelten, dass Gewalt kein Mittel der politischen Auseinandersetzung ist. (...) Kritik ist immer auch eine Art Frühwarnsystem, das Politik und Wirtschaft nicht ignorieren sollten. Der Nobelpreisträger für Wirtschaftswissenschaften des >Jahres 1998, Amartya Sen, hat gesagt: "Obwohl ich für die Globalisierung bin, danke ich Gott für die Antiglobalisierungsbewegung." Er hat Recht. (...)

Kein Mensch ist schon deshalb frei, weil er am Markt teilnehmen kann. Jeder Mensch aber verliert ein Stück seiner Freiheit, wenn er vom Markt ausgeschlossen ist ... Alle müssen an den Vorteilen teilhaben könne, die die weltweite Arbeitsteilung mit sich bringt. Davon sind wir weit entfernt. Die Globalisierung ist noch gar nicht so global, wie sich das anhört:

Wenn die soziale Ungleichheit zu groß wird, dann sagen viele Menschen: "Das ist nicht mehr meine Gesellschaft. Hier habe ich keine faire Chance." Wo sich das Gefühl ausbreitet, dass es nicht gerecht zugeht, da reagieren die Menschen mit Rückzug oder Protest, mit Verweigerung oder gar mit Gewalt. Horst Köhler, der Chef des Internationalen Währungsfonds, sagt: "Die extremen Ungleichgewichte in der Verteilung der Wohlfahrtsgewinne werden mehr und mehr zu einer Bedrohung der politischen und sozialen Stabilität." Er hat Recht.

Manche Wirtschaftswissenschaftler glauben, dass man angeben kann, von welchem Punkt an höhere Steuersätze zu niedrigeren Steuereinnahmen führen. Wir brauchen aber auch mehr Wissen über die Frage, wie viel soziale Gleichheit notwendig ist und von welchem Punkt an Ungleichheit sozial unannehmbar und wirtschaftlich schädlich wird. Wir brauchen auch in Deutschland eine Diskussion darüber, wie viel soziale Ungleichheit wir hinnehmen können im eigenen Land und weltweit. Das hat übrigens mit einer Neiddiskussion nicht zu tun."

Wir müssen unsere Märkte schrittweise für alle Produkte der Entwicklungsländer öffnen. Deshalb ist es zum Beispiel richtig, dass die Europäische Union ihre Export-Subventionen für Getreide in wenigen Jahren ganz abbauen will. Ich weiß freilich, dass das zu Strukturproblemen in unserer eigenen Wirtschaft führt. Darum muss sich die Politik rechtzeitig kümmern. Von den Entwicklungsländern könne wir nur dann erwarten, dass sie weltweit hohe soziale und ökologische Standards akzeptieren, wenn wir selber bereit sind, unsere Märkte zu öffnen. ...

Die Entwicklungsländern müssen stärkeres Gewicht bekommen in den Entscheidungsgremien von Weltbank, Weltwährungsfonds und Welthandelsorganisation. Diese Organisationen sind den Menschen auf dem ganzen Globus verpflichtet und nicht wirtschaftlichen oder Einzelinteressen. ...

Jeder von uns kann etwas tun. Jeder kann zu einem fairen Welthandel beitragen. Das scheint naiv, aber es gibt gute Beispiel dafür. Viele Verbraucherinnen und Verbraucher kaufen fair gehandelten Kaffee, Orangensaft und Kakao. Waren mit Transfair-Siegeln hatten im vergangenen Jahr in Deutschland einen Umsatz von dreiundfünfzig Millionen Euro. Beim Kaffee liegt ihr Marktanteil nur bei einem Prozent, bei Tee nur bei 2,5 Prozent. D ist wahrlich noch viel Spielraum nach oben. ein anderes Beispiel ist das Warenzeichen "Rugmark", das garantiert, dass ein Teppich nicht von Kindern geknüpft worden ist ...

Wer sich heimatlos und entwurzelt fühlt, der wird leicht zum Opfer fundamentalistischer oder populistischer Parolen. Politische Extremisten finden auch in europäischen Ländern viel Zulauf und gewinnen bei Wahlen erschreckend viele Stimmen. Wir können diese gefährliche Entwicklung g nur eindämmen, wenn wir Entfremdungsgefühle ernst nehmen und ihren Ursachen nachgehen. Eine Globalisierung, die Menschen überfordert, schadet letztlich unseren Gesellschaften insgesamt. Auch das zeigt, dass Globalisierung politisch gestaltet werden muss.

Noch nie haben sich so viele Arbeitnehmer Sorgen gemacht, ob ihr Unternehmen zum Übernahmeobjekt ausländischer Konzerne werden könnte und was dann aus ihnen würde. Da ist Gesprächsthema in den Betrieben, an der Theke und zu Hause ... Menschen sind nicht so mobil und nicht so bindungslos wie Kapital, uns sie werden und wollen es auch nie sein. Wir brauchen Heimat und Bodenhaftung. Wir brauchen familiäre Bindungen, Freunde, Bekannte, eins starkes soziales Netz. Menschen abrauchen Wärme und sie brauchen Geborgenheit. Wer das für altmodisch hält, der täuscht sich. Die Politik muss Ängste und Unsicherheiten ernst nehmen. Sie muss Orientierung bieten. ... Der Sozialstaat ist kein Bremsklotz für die wirtschaftliche Dynamik. Im Gegenteil: Richtig geordnet stärkt er die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit, weil der die Menschen entlastet und Freiraum schafft für Kreativität du Leistung. Ganz gewiss brauche wir Reformen bei den sozialen Sicherungssystemen. Wir müssen über Bismarck hinaus, aber nicht hinter Bismarck zurück. ... Die Globalisierung wird dann ein Erfolg, wenn die Dynamik der Marktkräfte politisch in gute Bahnen gelenkt wird. Die Menschen überall auf der Welt müssen erleben, dass sie im Mittelpunkt stehen. Sie müssen erkennen können: Die Politik und die Wirtschaft werden um der Menschen willen gemacht. Das gilt es neu zu entdecken.

Johannes Rau

Netz-Info, September 2002
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